80Jahre nach der Befreiung von Auschwitz schwindet das Wissen um den Holocaust. Deswegen ist ein Film wie „Nürnberg 45“ so wichtig.
Erschienen in: FOCUS 46 / 2025
Hier kommt ein Film gegen das Vergessen: „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“. Denn die Gefahr des Vergessens ist wieder da. 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz schwindet das Wissen um den Holocaust und die Schoah zusehends – vor allem bei der jüngeren Generation. Zu diesem Schluss kommen verschiedene aktuelle Umfragen. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen gaben etwa 40 Prozent an, nicht gewusst zu haben, dass etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. 15 Prozent glaubten, es seien weniger als zwei Millionen gewesen. Zwei Prozent aller Befragten waren der Auffassung, der Holocaust habe überhaupt nicht stattgefunden. Diesem bestürzend hohen Anteil von fehlendem Wissen steht heute in Deutschland ein besorgniserregender Anstieg antisemitischer verbaler und körperlicher Gewalt gegenüber. Umso wichtiger ist es, die Erinnerungskultur nicht nur in staatstragenden Ritualen weiterzugeben, sondern mit neuen Erzählformen und modernen Formaten den jeweils nachwachsenden Generationen die Verbrechen der Schoah zu vermitteln. Gleichzeitig gilt dieses „Nie wieder!“ nicht nur gegenüber den ermordeten Juden, sondern sollte auch ganz selbstverständlich als Solidarität mit den heute in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden gelebt werden.
Ich empfehle nachdrücklich das Dokudrama „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“, das am Sonntag um 21.45 Uhr im Ersten gesendet und dann in der ARD-Mediathek bereitgestellt wird. Der Film erzählt die Nürnberger Prozesse, die einen bedeutenden Meilenstein im Völkerstrafrecht markieren. Zum ersten Mal wurden Politiker und Militärs durch ein internationales Gericht persönlich für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen. Das Dokudrama erzählt die Ereignisse aus der Perspektive zweier junger Holocaust-Überlebender: Ernst Michel, damals 22 Jahre alt, und Seweryna Szmaglewska, damals 29 Jahre alt. Seweryna Szmaglewska überlebte mehr als zweieinhalb Jahre in Auschwitz-Birkenau. Sie ist eine von nur zwei Frauen, die als Zeuginnen beim Nürnberger Prozess auftreten, und muss wochenlang warten, bis sie endlich aussagen darf.
Ernst Michel stammt aus Mannheim – der Stadt, in der ich aufgewachsen bin – und wurde nach vier Jahren Arbeitslager im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und sofort ins KZ Buna/Monowitz verbracht. Er hatte dort das große Glück, wegen seiner schönen Handschrift als Schreiber im Häftlingskrankenbau verpflichtet zu werden. Seine Ausbildung zum Kalligrafen rettete ihm das Leben. Sein Vater und seine Mutter starben in Auschwitz. Wenig später sitzt Michel als 22-jähriger Journalist – großartig gespielt von Jonathan Berlin – im Nürnberger Prozess und schaut den Mördern seiner Familie und seiner Freunde in die Augen: Keine zehn Meter sitzt er, der Auschwitz-Überlebende, von Hermann Göring und den anderen Hauptkriegsverbrechern entfernt. Das ist nahezu unerträglich, doch als Reporter muss und will Michel objektiv und neutral berichten. Seine Artikel unterzeichnete er immer mit „Sonderberichterstatter Ernst Michel. Auschwitz-Nummer 104995“. Das bringt ihm auch die Aufmerksamkeit des Angeklagten „Nummer eins“ ein, Hermann Göring, der ihn schließlich als einzigen Journalisten zu einem Gespräch in seine Zelle einlädt. Dem „Spiegel“ erzählte Ernst Michel 2006 von dieser Begegnung: „Wir gingen also zu Görings Zelle, die Tür wurde geöffnet. Göring lächelte, kam auf mich zu und wollte mir die Hand geben. In dem Moment erstarrte ich, ich konnte mich nicht bewegen. Ich sah nur die Hand, das Gesicht, wieder die Hand – und drehte mich weg. Ich konnte nicht, ich konnte mit diesem Mann nicht reden, kein Wort.“
„Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“ verbindet dokumentarische Genauigkeit mit emotionaler Tiefe und ist ein Beispiel für die Kraft filmischen Erzählens historischer Stoffe. Das Genre des Dokudramas eignet sich besonders gut, um historische Themen gerade auch für jüngere Zielgruppen lebendig und nachvollziehbar aufzubereiten. Für mich persönlich liegt hier eine große Chance, spürbar zu machen, welche Verbrechen die Juden Europas erleiden mussten. Und damit einher geht auch eine Art Selbstreflexion über die deutsche, nicht jüdische Kriegsgeneration, die nach 1945 zwischen Zusammenbruch des Dritten Reiches und der Hoffnung auf Wiederaufbau ihrer zertrümmerten Welt (die sie ja selbst in Schutt und Asche gelegt hatte) – fast schon schizophren – um eigene Positionen gerungen hat. Vieles, was ich im Moment immer wieder im erstarkenden Antisemitismus erlebe, rührt für mich aus diesen Momenten, die „Nürnberg 45“ so spürbar macht: das Entsetzen über die Bestialität des Mordens und diese Hilflosigkeit, diese moralische Stunde null, mit der nicht jüdische Deutsche lange Zeit nicht umgehen konnten oder wollten. Diese in weiten Teilen unverarbeitete tiefe Schuld gegenüber dem Judentum wirkt immer noch so machtvoll nach, dass anscheinend heute wieder allem, was mit jüdischem Leben zu tun hat, mit Reserviertheit, Ängstlichkeit und oftmals mit blankem Hass begegnet wird. „Nürnberg 45“ gibt die Chance auf emotionale Einsicht, auf Verstehen. Der Film ist darüber hinaus auch ein wichtiger Beweis, dass die Geschichte des Dritten Reiches immer noch nicht auserzählt ist, auch nie auserzählt sein wird.











